VON JUPP SUTTNER // Durchaus diabolisch grinsend deutet Kristian Ghedina (51) mit dem Skistock auf die Stelle: „Hier hat es Lindsey Vonn ins Fangnetz ge…“ Gedroschen? Das Wort ist nicht ganz genau zu verstehen. Einerseits des pfeifenden Windes wegen, der gerade auf der Weltcup-Strecke von Cortina herrscht – aber vielleicht hat andererseits auch einfach der Nebel, der ein wenig über der Tofana hängt, das Gesagte verschluckt. Es kann jedoch als dritte Möglichkeit auch sein, dass es sich ganz schlicht so verhält: „Mein Deutsch ist nicht gut“, sagt der Italo-Abfahrts-Heroe, „aber lustig“.
Kristian Ghedina – von 1988 bis 2006 im Weltcup startend („Ich erlebte zwei Generationen“) – ist an diesem Vor-Corona-Tag als Botschafter von Cortina d‘Ampezzo mit ein paar ausländischen Medienmenschen auf Ski unterwegs, um die Pisten der Alpinen Skiweltmeisterschaften zu präsentieren; die am morgigen Montag, 8. Februar 2021, beginnen. Und fügt, nachdem er den Stock wieder von der Vonn-Crash-Stelle gesenkt hat, hinzu: „Aber es war alles spagetti mit ihr“. Paletti.
Das kleine Wortwitzchen zeigt bereits – Kristian Ghedina zählt zu jenem Teil der Menschheit, der so gut wie immer die gute Laune als Banner durch die Welt trägt. Und das, obwohl seine Mutter, eine Skilehrerin, bei einem Lawinenunglück ums Leben kam, als er 14 war. Ghedina ist ein Ladiner, zugleich ein Schlawiner – freilich der liebevollen Ausführung. Eine Art Monaco Franze im Gebirg‘. A bissl was geht immer.
Nur jetzt, kurz vor der Alpinen Ski-WM in Cortina (bis 21. Februar), in welche 95 Millionen Euro investiert wurden, ist ihm das Lachen irgendwie vergangen. Seine Stimme wirkt geradezu bedrückt, denn: „Alles war prima. Aber dann sind drei Lawinen gekommen und haben alle Fangnetze an der Strecke und die Aufbauten für die Fernseh-Kameras zerstört. Das war viel Arbeit, alles wiederherzustellen! Doch jetzt ist es perfekt.“
Bis auf Corona natürlich. Es sind keine Zuschauer zur WM zugelassen und die Lifte für Touristen sollen erst wieder am 15. Februar oder vielleicht erst am 1. März oder eventuell sogar noch später geöffnet werden. Miese Stimmung also im Ort? „Nein, nein“, sagt Ghedina, „die sind alle heiter!“ Und voller Hoffnung „auf schönes Wetter. Dann ist das trotz Corona eine gute Werbung für Cortina, wenn Millionen Menschen im TV sehen, wie schön es hier ist.“ Nun: wetter.com hat für Cortina mieses Wetter angesagt – bis kommenden Mittwoch. Ab Donnerstag jedoch: Reklame-Sonnen-Kaiser-Wetter!
Und vielleicht sehen die Zuschauer an den Bildschirmen dann ja auch, wie wunderbar die Abfahrtsstrecke ist – denn Ghedina wird eventuell den „Kamerafahrer“ geben. „Aber ich weiß noch nicht, ob ich das wirklich mache – ich fühle mich momentan nicht in Superform.“
Wobei er die WM-Pisten mit Touristen wie uns an jenem Vor-Corona-Tag natürlich mit offenen Skischuhen fuhr. Und den legendären Tofana-Schuss, die Mutprobe eines jeden Urlaubers, ebenso natürlich absolut kerzengerade hinab duschte – ohne einen einzigen Schwung einzulegen. Dennoch klagte er schon damals, augenzwinkernd: „Heute kein Kraft mehr, heute nur noch Trallala, Trallala…“
Immerhin: Beim Damen-Weltcup-Rennen rasten die Ladies hier mit 140 km/h durch diese Passage – doch Ghedina als Vorläufer wurde mit 157 Stundenkilometern gemessen. Und war damit logischerweise auch um etliches schneller als Toni Sailer, der damals, 1956, als 20jähriger Kitzbüheler Jung-Weltstar, an diesem Ort dreifacher Olympiasieger wurde.
(Cortina von seiner schönsten Seite.
Foto: Bandion/Cortina-Tourismus/Jensen
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„Von Olympia 1956“, weiß der 1969 geborene Ghedina, „leben wir immer noch.“ Dieses Fünfringe-Event habe Cortina so berühmt gemacht, dass es zum Nobel-Ort avancierte. „Viele Leute sagen mir, dass sie Cortina lieben – weil so wenig Leute Skifahren.“
Stimmt. Die 5.850-Einwohner-Gemeinde ist während der Nicht-Corona-Zeit berühmt dafür, dass viele Gäste lediglich eine einzige Auffahrt bestreiten, um sofort eine Hütte und/oder einen Liegestuhl aufzusuchen. Und ab 17 Uhr wird sich dann in den Nerz oder Zobel geworfen. Wenn auf der ganzen Welt Pelzmäntel verboten würden – in Cortina würden sie von den eleganten Russinnen und Italienerinnen dann immer noch getragen.
Das Image des Dolce far „schi“ente, das süße Nichtstun auf Ski, ist zwar unbezahlbar, was die Akquirierung wohlhabender Feriengäste betrifft, die ihren Status auch unbedingt zu demonstrieren wünschen. Doch ein zweites Image, das eines klasse Skigebiets (das Cortina ganz unbedingt ist!), liegt Ghedina zweifelsohne sehr, sehr, sehr am Herzen. Weshalb er es von eben jenem Herzen her vollumfänglich begrüßt, dass die WM-Rennen 2021 hierher vergeben wurden sowie auch die alpinen Damen-Bewerbe der Olympischen Spiele 2026. „Wir hatten hier viele alte Sessellifte aus der k. u. k.-Zeit“, wie er etwas übertreibt, „aber durch die WM gab es neue.“
Natürlich wollten sie auf der Weltmeisterschafts-Abfahrts-Strecke eine Passage nach ihm benennen. Also schuf man den „Ghedina-Sprung“. Denn durch einen Sprung schließlich war der Gewinner von 13 Weltcup-Rennen („Das erste in Cortina – das war mein schönster Sieg“) ja berühmt geworden: Als er zwei Jahre vor seinem Karriereende beim Hahnenkammrennen 2004 als 34jähriger mit 137 km/h beim Zielhüpfer der Streif in Kitzbühel wie ein Freestyler in der Luft die Beine grätschte. (Unbedingt ansehen: https://www.laola1.at/de/red/wintersport/ski-alpin/kitzbuehel/die-magic-moments-der-kitzbuehel-geschichte/ ). Er wurde an diesem Tag 6. Als wahres „Springginkerl“ könnte man ihn demzufolge auf alpenländisch bezeichnen. „Ich hatte am Abend zuvor mit meinem Cousin um eine Pizza und ein Bier gewettet, dass ich das machen würde. In Kitz bin ich berühmt wegen meiner Grazy, nicht wegen meiner Siege…“
„Ich habe ihnen gesagt“, sagt Ghedina und meint die WM-Pisten-Konstrukteure, „dass der Sprung mindestens 60 Meter weit sein muss!“. So er denn den Namen Ghedina zu tragen würdig sein solle. „Jetzt sind es 80 bis 100 Meter geworden“, strahlt er. „Aber die FIS“, der Skiweltverband, „wird das bis auf 30 Meter hinab entschärfen. Denn mehr als 50 Prozent der Läufer haben Angst vor Sprüngen. Weil sie es nicht trainieren. Ich war ja mal Trainer von Ivica Kostelic“, dem kroatischen Gesamt-Weltcup-Gewinner 2010/11, „und selbst der hatte Angst vor Sprüngen.“ Und er, Ghedina? „Ich habe es immer geliebt! Auch das Gleiten. Die Kurven weniger.“
Gegen die Kurvenschwäche half weder das Kupferarmband, das er von einem Freund geschenkt bekam und welches er nach wie vor trägt noch die eine, entscheidende Unterhose, die er bei seinen Rennen trug. „Anfangs war ich abergläubisch. Aber es war lästig, diese eine spezielle Unterhose immer waschen zu müssen. Und als ich feststellte, dass ich auch mit anderen Unterhosen gewinnen konnte, habe ich damit aufgehört.“
Dann schwingen und rutschen und tasten wir uns an jenem Vor-Corona-Tag in der schlechten Sicht weiter, unseren berühmten Guide vermutlich schwer enttäuschend, denn er hatte bereits zur Begrüßung am Morgen angekündigt: „Ich fahre nur mit Leuten, die 100 km/h fahren.“ Und war dabei in augenzwinkerndes Gelächter ausgebrochen. „Und wenn mich eine Autofirma für einen Skitag bucht, dann teile ich immer in drei Gruppen ein: 100 km/h-Gruppe, Slalom-Gruppe, Hütten-Gruppe.“
Ghedina, der „nach wie vor Franz Klammer“, den Kärntner 1976er-Olympiasieger, als größten Abfahrer aller Zeiten betrachtet, wirkt, als stünde „Lebenslust pur“ auf seinem Sturzhelm. Der dreifache WM-Medaillen-Gewinner hat sich stets schelmisch und voller Vergnügen durch das Leben geschlängelt, der „Brocco“, wie sie den in Pieve di Cadore Geborenen zu Hause nennen, „Klepper“ – abgeleitet vom Hofnamen Broco. „Mein Vater wollte immer“, dass ich einen Beruf lerne. Aber einen richtigen…“ Nun – nach der Ski-Karriere ist er Autorennfahrer geworden.
Kristian Ghedina. Foto-Copyright (auch für
das Titelfoto ganz oben): Jupp Suttner
Dann wechseln wir auf die andere Seite des Skigebiets, zur garantiert sporthistorischsten Hütte von ganz Italien – Rifugio Col Druscié. Sie liegt direkt an der Piste A von Col Druscié. Dies ist jener Hang, auf dem bei den Olympischen Spielen 1956 in Cortina d’Ampezzo der Slalom ausgetragen wurde und Toni Sailer eine weitere seiner drei bereits besagten Goldmedaillen errang. Garantiert hat auch er sich in dieser Hütte aufgewärmt. Und vielleicht werden ja auch die Olympia-Starterinnen 2026 sich hier für den Slalom einstimmen – wenn die Spiele erneut in Cortina ausgetragen werden.
Die Rifugio Col Druscié zu besuchen, ist also ein Nostalgie- und Zukunfts-Skigeschichts-Genuss zugleich. Wobei man dann freilich auch unbedingt dort speisen sollte. Die Nudelgerichte – zum Niederknien! Hätten durchaus auch eine (olympische Koch-)Medaille verdient. Ebenso der fabelhafte Fernblick dort auf 1.778 m Höhe. Nur den Sessellift, „auf dem schon der Hintern von Toni Sailer“ saß, kann man nicht mehr benutzen – er musste einem neueren Modell weichen.
Wobei auch Ghedina selbst sich nicht mehr als ganz, ganz frisches Modell fühlt. „Ich bin immer noch ein junger Mann im Kopf – aber nicht mehr mit dem Körper. Ich darf nicht mehr alles machen, was ich früher machte. Aber wenn du im Kopf jung bist, bleibt immer noch genügend übrig, was Spaß von Risiko bringt. Aber wenn du alt bist im Kopf – bist du schon tot.“
Nun ja, es sind noch einige Sachen übrig, die ihm Vergnügen bereiten. Weshalb er sich jetzt auch in der Hütte erhebt und sich verabschiedet. „Ich muss jetzt gehen – Kinder machen! BogaBogaBoga!“
Das heißt wahrscheinlich BungaBungaBunga auf ladinisch. Aber wir können ihn nicht mehr fragen. Er ist schon enteilt. Und auf Ski ihn einzuholen – müssten wir ein junger Ghedina sein. Ein ganz, ganz junger.
Jupp Suttner
Infos:
Cortina d’Ampezzo – so der volle Name (ladinisch Anpezo, altdeutsch-österreichisch einst Hayden) – wird von 5.850 Menschen bewohnt, liegt in der Provinz Belluno (Venetien), besitzt rund 120 Pisten-km und gehört zum Dolomiti Superski-Verbund (12 Skigebiete, 450 Aufstiegshilfen, 1.220 Pisten-km). Details: www.dolomiti.org/de/cortina/fremdenverkehrsamt/ , www.dolomitisuperski.com