Genau JETZT sollte man nach St. Moritz düsen! Um erstens die Stars live bei der WM zu sehen. Und zugleich selbst zu wedeln und zu carven. Platz ist genug. Denn von den 360 Pisten-Kilometern sind nur ganz wenige für die Weltmeisterschafts-Wettbewerbe gesperrt. Gesperrt wie auch der Free Fall am heutigen Sonntag – wegen Nebels wurde die Startpassage der Männer-Abfahrt NICHT in Anspruch genommen. Man begann das Rennen erst unterhalb dieses Stichs. Wie schade. Denn der Blick dort oben schockiert. Der Blick in die Tiefe des besagten Freien Falls. In sechs Sekunden katapultierte er im Training die Skipiloten von 0 auf 100, in 7,5 Sekunden auf 140 Stundenkilometer. Weltrekord im Weltcup und bei WMs – keine Alpin-Abfahrt des Ski-Zirkus’ beginnt spektakulärer. Das Irritierende für die Asse: „Sie sehen nicht, wo es hin geht“, weiß Race-Organisations-Chef Martin Berthod, „sie werfen sich ins Leere…“ Was ihnen heute erspart blieb. Weil es wegen Nebels nichts zu sehen gab…
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Foto oben:
Dies ist NICHT der Start der WM-Abfahrt. Sondern das Ziel des St. Moritz City Race, das gleichfalls stets einen Höhepunkt der Engadiner Renn-Saison bildet…
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Jupp Suttner
Text:
Jupp Suttner
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Eine atemberaubende Renn-Eröffnung jedenfalls bietet diese Piste. Doch nicht für jeden. Britische Golfclubs erregen immer noch Aufsehen mit einem Hinweisschild „No dogs, no women“. In St. Moritz hingegen heißt es: No tourists, no women. Und zwar bei exakt diesem Free Fall. Skiurlauber können zwar die 187 Stufen einer Stahltreppe zum Start auf 2.840 m Höhe empor stapfen. Und in den Hang hinein blicken. Doch sie dürfen ihn nicht befahren. Es wäre lebensgefährlich. Weil:
Die Steilheit ist mit 45 ° Neigung und 100 % Gefälle (Starthang der Streif in Kitzbühel zur Mausefalle hinab: 85 %) derart ausgeprägt, dass zur Präparierung ausschließlich Kunstschnee verwendet werden kann, der mittels Seilwinde und Raupe als Grundlage angelegt wird. Für die Feinschliff-Begradigung dürfen ausschließlich erfahrene Bergsteiger in Aktion treten. Und die beiden obersten Tore gar werden ausschließlich von Bergführern mit Pickel, Steigeisen und Seilanhängung bewacht. Die Seilsicherung ist Pflicht. Denn ein Fehltritt – und die rasende Höllenfahrt nach unten wäre nicht mehr zu stoppen. „Wenn man hier stürzt“, sagt Berthod, „dann kann es sein, dass die Kleidung zu brennen beginnt.“
Und deshalb durften bereits heute Vormittag bei ihrer WM-Abfahrt die Women des Weltcups diesen Start nicht benützen – damit sie nicht plötzlich ohne Kleidung, weil die Textilien ja verbrennen könnten, im Schnee gelegen wären! Falsch gedacht. Die Wahrheit lautet:
„Die Frauen des Weltcups“, verrät WM-Sponsoring-Boss Andri Schmellentin, „könnten vermutlich alle diesen Hang bewältigen. Aber der Skiweltverband gestattet es nicht. Denn dieses Spektakel soll aus Marketing-Gründen ausschließlich den Männern vorbehalten bleiben.“
Der Mythos der Schnee-Dominatoren und Downhill-Terminatoren darf keinen Kratzer erhalten. Man stelle sich vor, wenn auch die Frauen des Metiers fehlerfrei und schadlos dieses Abenteuer überstünden? Die 2,20-m-Abfahrtslatten der Burschen würden auf 1,10 m einschrumpfen.
In St. Moritz geht nach 1934, 1948 (die Olympischen Spiele waren zugleich WM), 1974 und 2003 nun zum fünften Mal Alpin-WM über die weiße Bühne. Die aktuelle Abfahrtsstrecke wurde in Teilen schon 1974 benutzt. Und bei der 2003er-WM existierte bereits der Free Fall als Attraktion, kreiert vom Andermatter 1972er-Abfahrts-Olympiasieger Bernhard Russi, der später zum berühmtesten Pisten-Architekten der weißen Welt avancierte.
Wie überhaupt die 03er-Strecke sich in fast nichts von der 17er unterscheidet. „So nachhaltig kann Skisport sein“, sagt WM-Mediendirektor Daniel Schaltegger. „Und sehen Sie mal nach oben“, fügt er hinzu, als wir wieder unten sind, „von der WM 1974 sieht man immer noch die Narben, da wächst teilweise bis heute nichts mehr nach.“ Was inzwischen „kaum mehr passieren kann“. Denn in der Jetzt-Zeit nehme man „vorher“ einfach das Gras weg – und lege es „hinterher“ wieder drauf.
Alle Rennen münden in ein einziges Ziel – dessen Umgebung sich als durchaus problematisch erwies, da sich in unmittelbarer Nähe ein geschütztes Hochmoor befindet. „Man darf da nicht einen einzigen Meter drüber fahren“, grollt der einheimische WM-Direktor Franco Giovanoli (49), „aber wenn im Sommer die Kühe drauf stehen – dann ist das natürlich etwas ganz, ganz anderes. Früher war an dieser Stelle die Mülldeponie. Aber bei uns wird ja jeder Ameisenhaufen geschützt.“
Trotzdem habe man stets „ein gutes Einvernehmen mit den Umwelt-Organisationen“ gehabt. „Wir renaturierten beispielsweise einen Bach – und durften dafür am Berg was machen.“ Ein gewissermaßen „natür“licher Handel, bei dem sich dann alle Parteien die Hände in Unschuld waschen können – natürlich im Bach.
60 Millionen Schweizer Franken schwer ist der WM-Etat – ohne den Bau der neuen Signalbahn. Rund 55,9 Millionen Euro. Die Gemeinde selbst trifft es mit 12 Millionen Franken (11,2 Millionen Euro), der Rest stammt vom Bund und dem Kanton Graubünden. 25 Menschen sitzen im Organisationskomitee, dazu gesellen sich noch 1 300 Volunteers aus der ganzen Welt und fast 700 Helfer vom Militär hinzu.
4 500 der St. Moritzer Gästebetten mussten während der WM-Zeit an die (wie Giovanol sie nennt) „Familie“, also den WM-Tross, abgetreten werden. Doch anreisenden speziellen WM- und unspeziellen Winter-Touristen bleiben noch genügend Nächtigungs-Möglichkeiten übrig. Ebenso verhält es sich mit den Hängen zum freien Skifahren und Snowboarden: „Wir haben hier 360 Pisten-Kilometer“, beantwortet Giovanoli eine immer wieder gestellte Frage, „und die WM-Piste ist nur eine einzige von ganz vielen. Natürlich ist auch an diesem oder jenem Berg auch noch was für Trainingszwecke gesperrt – aber das fällt nicht ins Gewicht.“
Die Einheimischen kalkulieren mit etwa 200 000 anreisenden Interessenten während der WM-Zeit bis 19. Februar, also zur ohnehin absoluten Hochsaison. 2003 bemerkte man, dass „einige Stammgäste“ (so Giovanola) nicht erschienen. Sagt ein Schweizer „einige“, so meint er in seiner zurückhaltenden Art vermutlich ganz viele. 2017 wird es sich wohl nicht anders verhalten. Aber die Verweigerer würden dann halt zu einem späteren Zeitpunkt ihre Ferien im Engadin verbringen – hofft man. Und nicht etwa zur gleichen Zeit an einem anderen Schweizer Ort wie etwa Zermatt oder Davos oder Gstaad ihren Skiurlaub zelebrieren. Und dadurch vielleicht auf Jahre hinaus verloren gehen.
Denn alles kann St. Moritz brauchen – nur das nicht. Sonst wäre etwas schief gelaufen mit dem „Goldenen Berg“. So nennen die Einheimischen ihre Corviglia. Jedoch nicht etwa, weil das Massiv bei Sonnenaufgang gelegentlich in gleißendes Licht getaucht ist. Sondern weil so viel in ihn investiert wurde. Ohne Garantie auf Return. Und man bangt deshalb ein wenig, dass die WM dem Champagner-Ort nicht eines beschert: einen Free Fall.
Jupp Suttner
Infos über das Skigebiet: www.stmoritz.com
Infos über die Region: www.engadin.stmoritz.ch , www.engadin.com , www.graubuenden.ch
Infos über das Land: www.mySwitzerland.com