Nur noch neun Stunden

Im Südtiroler Obereggen kann man abends sehr lange und morgens schon sehr früh auf die Bretter

Dunkel war‘s, der Mond schien überhaupt nicht. Leider bewölkt heute Nacht. Dafür fauchen hier oben hinter der Epircher-Laner Alm die Schneekanonen, blasen unaufhörlich ihre weiße Pracht in den sternlosen Himmel, der sich dann zu weißen Haufen türmt, die man bei Bedarf in die Piste schieben kann.  Die Sonne ist schon vor ein paar Stunden untergegangen, aber die die Ochsenweide-Piste in Obereggen strahlt noch flutlichterhellt. Vom Gegenhang betrachtet sieht das aus, als schlängele sich ein riesiges, weißes Reptil durch den Wald.  Bis spät in die Nacht kann man die knapp zwei Kilometer lange  Waldabfahrt hinunter in den Ort carven, und das auf einer frisch gewalzten samtweichen Piste wie ein  Teppich. Die anderen 38 Pistenkilometer des Gebiets bleiben zwar im Dunklen, trotzdem: Skifahren, wenn die allermeisten in den Hotels und Pensionen beim Abendessen sitzen oder an der Bar noch ein Glas Rotwein trinken – das hat was.

Vor allem hat man ganz viel Platz. Viel ist heute Abend nicht los an der Kabinenbahn Ochsenweide. Skipass  vorhalten, es piepst, der Durchgang zu den Gondeln ist frei. An drei Tagen in der Woche läuft die Bahn abends von 19 bis 22 Uhr noch einmal. Für die meisten ohne Extrakosten. Wer einen Skipass hat, für den öffnen sich die Drehkreuze automatisch. So ein Zusatzangebot kann für Menschen, die stets darauf bedacht sind, das Bezahlte auch voll auszunutzen, natürlich zum Problem werden. Aber heute sieht es hier nicht so aus, als ob viele partout Liftkilometer sammeln wollen. Kaum Skifahrer an der Bahn, man steigt ohne jede Wartezeit in die Gondel und schwebt ein paar Minuten durch den dunklen Wald nach oben. Herrlich ruhig ist es, allerdings auch ganz schön kalt, aber dafür gibt es ja wunderbare Funktionswäsche.  

Nach dem Ausstieg ist es aber erst mal vorbei mit der Ruhe. Gleich neben der Bergstation liegt die Epircher-Laner Hütte. Drinnen wärmen sich Rodler vor der Fahrt auf der ebenfalls voll ausgeleuchteten Bahn auf, oder sie trinken sich ein wenig Mut an, oder beides. Vor der Hütte schwingen sich Skifahrer und Boarder an einer bunt beleuchteten Bar innerlich ein. Oder auch schon wieder aus. Manche bewegen sich auch zu der Musik, die in beeindruckender Lautstärke auf die friedliche Piste quillt. So manchen Nachtläufer ziert eine rote Nase. Man weiß nicht so genau,  kommt es von der Kälte, dem Alkohol oder der Musik. Gerade röhren die „Geilen Buben“ aus den Boxen. Der Name der Band lässt ahnen, dass wir hier nicht aus den Texten zitieren können. Aber gut, wenn es der Stimmung dient.

Man muss ja nicht zuhören. Also los. Rechts geht ein Tunnel weg, durch den die Rodler auf ihre abgegrenzte und gesicherte Bahn kommen. Auch rechts liegt der Night Snowpark für Boarder und sonstige Menschen, die gerne mit ihren Brett(ern) über Hindernisse schleifen und springen, die „Butter Rail“ oder „Wave Box“ heißen. Der große, breite Rest der Piste ist dagegen frei für nächtliches, nahezu ungestörtes Carven. Nach ein paar Radien ist die seltsame Musik aus der Bar komplett verklungen, man hört nur noch das Kratzen der Kanten und seinen eigenen, dampfenden Atem. So viel Platz wünscht man sich tagsüber manchmal und über die ersten weiten Schwünge ist schnell vergessen, dass es vorher doch ein wenig Überwindung gekostet hat, sich  nochmal in die Skistiefel zu zwängen und die noch feuchten Handschuhe anzuziehen, statt sich in aller Ruhe vier Gänge zu gönnen. Die Hotellerie hat sich übrigens auf die Spätschwinger einstellt. Um halb Sieben wird ein  verkürztes Menu serviert, für den Rückkehrer ist das Käsebüffet später aber noch nicht abgeräumt.

Und zu dem zieht es einen dann nach einigen genußvollen Abfahrten und einem schnellen Schnapserl  an der Dröhnbar doch wieder hin. Ohne Sonne ist es eben ziemlich kalt zwischen 1500 und 1800 Meter Höhe. Und wem dass jetzt skifahrerisch immer noch nicht reicht –  bitteschön. In Obereggen kann man zumindest im März, wenn es wieder früher hell wird, schon im sieben Uhr wieder auf die Ski stehen. Das nennt man dann auf gut deutsch: „Be the first“. Dieses Vergnügen  gibt es allerdings nicht ganz umsonst, aber für elf Euro kommt man 90 Minuten vor der Meute auf die Hänge und kann zusammen mit Skilehrern nach einem schnellen Frühstück, „Flying Breakfast“ genannt, die ersten Schwünge in die frisch präparierten Hänge fräsen. Das zweite Frühstück gibt es dann, wenn die anderen zum Lift strömen. Auch das hat was. Und für Skiverückte liegen dann im März zwischen dem letzten und dem ersten Schwung nur noch neun Stunden.  

Jürgen Löhle

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